Ist Englands neuer Impfpass ein Vorbild für andere Länder?

Immer mehr Länder führen elektronische Impfnachweise ein. Sie werden hoffentlich von den Covid-Apps des letzten Jahres lernen.

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Die NHS-App bekommt den Impfpass.

(Bild: Annie Spratt / Unsplash)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Lindsay Muscato
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Vor fast genau einem Jahr stürzten sich Softwareentwickler auf die Programmierung von Systemen, die helfen könnten, die Pandemie zu stoppen. Damals ging es darum, festzustellen, ob man sich in der Nähe eines Covid-Infizierten aufgehalten hatte (Exposure Notification). Heute geht es um digitale Impfausweise, oft als "Impfpass" bezeichnet, mit denen man sich über sein Smartphone ausweisen kann.

Am 17. Mai führte England den digitalen Ausweis des National Health Service für den Grenzübertritt ein.

- Sie gilt nur für Menschen, die von England aus das Vereinigte Königreich verlassen (Schottland, Wales und Nordirland nutzen die App noch nicht, obwohl sie bald auf sie ausgeweitet werden könnte).

- Sie ist nur für den Grenzübertritt gedacht. Die Verwendung auch an Orten in der Stadt (zum Beispiel Pubs) ist noch umstritten.

- Nicht viele Länder akzeptieren bislang einen Impfnachweis als Alternative zu einer Quarantäne oder einem negativen Covid-Test. App-Nutzer müssen sich daher über die Regeln in ihrem Reiseziel informieren.

- Es handelt sich um ein Upgrade einer NHS-App, die Patientendaten bereitstellt – und nicht um eine Ergänzung der viel diskutierten NHS-App zur Ermittlung von Kontaktpersonen.

- Derzeit zeigt sie nur den Impfstatus an, nicht aber andere Informationen wie negative Testergebnisse. Das könnte allerdings noch hinzugefügt werden.

- Menschen ohne Smartphone können einen Brief anfordern, der bestätigt, dass sie beide Dosen des Impfstoffs erhalten haben.

Experten behalten die weitere Entwicklung kritisch im Auge. Laut Imogen Parker vom Ada Lovelace Institute rege sich bereits Widerstand gegen einen Pass, der an Orten wie Kneipen und Geschäften vorgezeigt werden müsse. "Wir werden beobachten, ob die Einführung am Montag nur ein Auftakt für eine weitergehende Nutzung ist", sagt sie. "Aber erfreulicherweise scheint die Regierung sehr vorsichtig vorzugehen."

Die NHS-App ist nicht der einzige Impfausweis in der Entwicklung. In ganz Europa arbeiten Regierungen an Smartphone-basierten Impfpässen – oder haben diese bereits eingeführt. Dazu gehört auch die EU, die Mitte März ein digitales "grünes Zertifikat" vorgeschlagen hat. Frankreichs TousAntiCovid-App zur Kontaktverfolgung wurde vergangenen Monat aktualisiert, so dass sie ein Impfzertifikat oder ein negatives Testergebnis ausweisen kann. Andere Länder müssen diese App allerdings nun auch noch als Nachweis akzeptieren. Italiens Innovationsminister kündigte eine Erweiterung der App Immuni zur Kontaktverfolgung auf Impfnachweise an, und Deutschland will eine entsprechende App bis Ende Juni einführen.

Außerhalb Europas sieht es noch uneinheitlicher aus. Israel hat im Februar seinen "grünen Pass" eingeführt, und Singapurs TraceTogether-App kann jetzt auch Impfungen ausweisen. Die USA wollen keine bundesweite App entwickeln, was in einen Flickenteppich aus verschiedensten Ansätzen von Bundesstaaten und privaten Unternehmen resultiert. Auch private und gemeinnützige Initiativen arbeiten dort an eigenen Systemen und Protokollen, darunter die Linux Foundation Public Health, das biometrische Sicherheitsunternehmen CLEAR, verschiedene Reiseanbieter und andere.

Elizabeth Renieris, Wissenschaftlerin für Technologie und Menschenrechte am Carr Center der Harvard Kennedy School und Mitarbeiterin des Digital Civil Society Lab an der Stanford University, erinnert der Hype um die Impfpässe – sowohl in den USA als auch weltweit – erschreckend an die Einführung der Covid-Apps im vergangenen Jahr. Diese Apps seien sehr überhastet an den Start gegangen, zu viele Fragen über Sinn und Nutzen seien offengeblieben.

"Das scheint sich zu wiederholen", sagt sie. "Wir müssen sehen, dass die Technologie zu einem seriösen Instrument der Regierungen wird. Sie gaukelt vor, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Doch das ist eine Illusion." Reniers verweist auf das, was gerade in Indien passiert: "Premierminister Narenda Modi preist eine neue App an, und alle Experten im Land schreien: 'Wir brauchen Impfstoffe.'"

Impfausweise und Exposure Notification-Apps sind technisch sehr unterschiedliche Dinge. Eine App, die Nutzer über einen möglichen Kontakt zu einem Infizierten benachrichtigt, arbeitet normalerweise anonym und unsichtbar, basierend auf Bluetooth-Signalen zwischen Smartphones. Impfpässe dagegen sind digitale Dokumente, die an Ihren Namen gebunden sind und anderen beweisen sollen, dass sie sich ohne Angst vor einer Infektion in Ihrer Nähe aufhalten können.

Anderes hingegen ist ähnlich, etwa der Aufbau, die beteiligten Institutionen und die Eile, mit der sie verbreitet werden. So stellen sich auch ähnliche Fragen, insbesondere, ob und wie die Technologie in die Öffentliche Politik eingebunden wird.

Luca Ferrari war als CEO des Entwicklers Bending Spoons (das Unternehmen arbeitet heute nicht mehr an dem System) maßgeblich an der Einführung der italienischen App zur Kontaktverfolgung, Immuni, beteiligt. Immuni ging im Juni 2020 an den Start. Laut Ferrari wurden die etwa 30.000 Arbeitsstunden finanziert – aber die Technologie in die Behörden zu bringen, war knifflig.

"Jeder dort wollte wirklich den Menschen helfen", sagt er. "Aber die leiseste Abweichung von Prioritäten und Zielen führte gleich zu großen Bedenken und Verzögerungen."

Zum Beispiel, sagt er, verlangte Immuni von positiv auf Covid getesteten Anwendern, ihre örtlichen Gesundheitsämter zu kontaktieren. Aber die Abteilungen waren oft damit überfordert, die Anfragen zu bearbeiten. Die Folge: Die App wurde weit weniger genutzt als erhofft.

Auch, so sagt er, hätte die Regierung es zu lange zugelassen, dass sich Falschinformationen zur Vertrauenswürdigkeit der App verbreiten.

Die nächste Generation der Pandemie-Tech könne jetzt aber aus diesen Lektionen lernen – auch für zukünftige Pandemien: "Ich würde die Behörden ermutigen, am Ende der Pandemie eine Art Werkzeugkasten zu hinterlassen, den wir dann wieder hervorkramen können."

Parker und ihr Team am Ada Lovelace Institute beobachten derzeit weltweit die Entwicklung digitaler Impfausweise und haben jüngst einen 110-seitigen Bericht mit Empfehlungen veröffentlicht. Zwar ließe sich noch nicht abschätzen, wie gut sich die NHS-App bewähren werde, "aber man geht die Sache langsam an", sagt sie. "Und das finde ich gut." (bsc)