Digital Health: "Gesundheitsdaten gehören auch dem Gesundheitssystem"

Seite 2: Sind Frauen systematisch überdosiert?

Inhaltsverzeichnis

Ein Datenbias mit tödlicher Wirkung?

Ja, der Bias erfolgt, weil die meisten Arzneimittel an mittelalten Männern getestet wurden. Hinzu kommen die Dosierungen, die bei Männern und Frauen fast immer gleich sind. Ich vermute: Wir Frauen sind systematisch überdosiert. Die Dosierung wird schon in der klinischen Studie in der Regel nicht thematisiert. Doch in den großen Datenmengen, die man zur Verfügung hat, könnte man tatsächlich im Nachgang feststellen, inwieweit Frauen durch eine Überdosierung stärkere Nebenwirkungen erleiden.

Wie hoch ist der Korrekturbedarf?

Das lässt sich aktuell noch nicht abschätzen, aber man könnte diese Daten einmal abfragen. Man muss wissen, dass bis 1994 Frauen in klinischen Studien gar nicht zugelassen waren – wegen des Contergan-Skandals in den 1960er Jahren. Erst in den 1990ern wurde man darauf aufmerksam, dass es Frauen benachteiligt, wenn zugelassene Arzneimittel nicht an Frauen, an weiblichen Mäusen oder an weiblichen Zelllinien getestet werden.

Wer kuratiert die Daten?

Zunächst müssen natürlich diejenigen so ausgebildet werden, dass sie ein Bewusstsein dafür bekommen, dass es in den Daten möglicherweise einen Bias gibt. Häufig stammen die Daten von Soldaten – weshalb man etwa in der Nierenforschung in den USA (Acute Kidney Injury Alert) die Daten der sieben Prozent Frauen am Gesamtdatensatz neben sieben Prozent der Männerdaten legt und den Rest verwirft. Klar ist jedenfalls, dass wir mehr Mathematiker bei uns benötigen, insbesondere für KI-Anwendungen.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Sicherung von Datenqualität? Wo stehen wir da heute?

Das größte Problem ist, wenn Daten gar nicht erhoben werden. Wenn sie erhoben werden, stellt sich die Frage nach dem Wie. Wenn es keine klinischen Daten gibt, kann man sich an die Abrechnungsdaten der Krankenkassen halten. Das ist strukturiertes XML mit vorgegebenen Begriffen. Für medizinische Dokumente sind diese Abrechnungsdaten aber nicht ausreichend. Da fehlen insbesondere viele seltene Erkrankungen. Die Betroffenen sind dann nicht sichtbar, weil sie nicht mit einer entsprechenden Terminologie dokumentiert und abgerechnet werden.

Wie sollte die elektronische Patientenakte (ePA) aussehen?

Es ist wichtig, dass eine Patientenakte eine Akte des Patienten für den Patienten ist – von den behandelnden Menschen und den Bürgern erstellt. Der Patient benötigt seine Medikation, seine Diagnosen und weitere Informationen des Arztes. Derzeit haben wir eine ePA, die von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt wird.

Wir brauchen eine echte medizinische, pflegerische, therapeutische Fachakte: Wie in Holland oder Finnland muss der fachliche Sachverhalt in die Patientenakte von den Medizinern, Pflegediensten und Therapeuten in die Patientenakte eingepflegt werden, sofern der Mensch das möchte. Das ist der eigentliche Weg, den wir gehen sollten.

Was bedeutet das, wenn die Krankenkassen die ePA einrichten?

Es werden Abrechnungsdaten der Krankenkassen hochgeladen, aber diese Daten sind nicht nur unvollständig, es fehlen jegliche andere Daten außer den Abrechnungsziffern, die auch sehr skurril anmuten. Möglicherweise kodiert ein Behandelnder einen Herzinfarkt gemäß Kodierrichtlinien, aber am Schluss stellt sich heraus, dass es kein Herzinfarkt war. Entsprechend hat die ePA dann einen Abrechnungsbias. Das größte Problem ist, dass die Bürger damit überfordert sind und den Unterschied zwischen Abrechnungsdaten und medizinischen Daten nicht einordnen können.

Wie brauchbar ist die ePA, so wie sie 2025 kommen soll?

Gut ist, dass die ePA einen Dokument-Standard befolgt, der IHE-konform ist [Anm. d. Red.: Integrating the Healthcare Enterprise ist eine Initiative für Interoperabilität im Gesundheitswesen]. Damit können Dokumente, wie etwa Arztbriefe sicher ausgetauscht werden. Die Softwaresysteme der Arztinformationssysteme-Hersteller können das leider noch nicht alle. Aber wir haben an der Charité zum Beispiel seit einigen Wochen die Möglichkeit, Arztbriefe oder weitere Vorbefunde aus der ePA in die Patientenakte unseres Krankenhaus-Informationssystems einzulesen. Damit können wir sofort Vorbefunde sowie Befunde der ambulanten Fachärzte sehen, sofern ein Einverständnis des Patienten erfolgt ist.

Welches System nutzen Sie an der Charité dafür?

Wir nutzen i.s.h.med und SAP-Komponenten an der Charité sowie unzählige Spezialsysteme, die größtenteils angebunden sind an unsere Krankenhaus-Informationssysteme. SAP hat jedoch angekündigt, in einigen Jahren den Support für i.s.h.med auslaufen zu lassen.

Wie sieht es mit Wearables von Fitnesstrackern und Smartwatches aus, sollten diese perspektivisch auch in der ePA landen?

Die Sensoren der neuen Smartwatch-Generation für das EKG und das Continuous Glucose Monitoring von Subanbietern sind bereits sehr gut. Diese Daten bräuchte man auch in einer Patientenakte, aber natürlich nicht jeden Datenpunkt.

Wie könnten die Messungen von Wearables in der ePA nutzbar gemacht werden, über Aggregation und Analyse?

Man würde dem Arzt nur die auffälligen EKG-Daten zeigen wollen. Das Gute ist, dass die Smartwatch dauerhaft misst und ich dann zum Beispiel in einem längeren Zeitraum auch um drei Uhr nachts eine Auffälligkeit registrieren kann. Man kann aber auch Algorithmen auf die Datenreihe legen und bestimmte Veränderungen, wie eine Herzrhythmusstörung anzeigen, die dann in der ePA dokumentiert wird.

Wie kommen diese Ereignisse dann in die ePA?

Die Frage ist: Was sind wichtige Daten? Dafür gibt es den ISO-Standard zur International Patient Summary, an dem wir Deutschen mitgewirkt habe. Er ist über die Weltgesundheitsorganisation inzwischen weltweit anerkannt. Hier gibt es eine Kurzakte, die das Wichtigste auf einen Blick in strukturierter Form zeigt. Bei einem Vorhofflimmern im EKG könnte man die relevanten Datenpunkte in die EPA ziehen. Oder man schreibt einfach eine ICD-Ziffer zu "Vorhofflimmern vor drei Wochen" hinein.

Das Bundesgesundheitsministerium hat kürzlich auch die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) ins Spiel gebracht.

Natürlich lassen sich so auch die Daten aus den DiGAs in die ePA überführen, die dann zur Krankenkasse durchlaufen. Bei diesem Szenario hätten die Medizinprodukte-Hersteller ein Wort mitzureden. Es geht ja nicht nur darum, wie man mit Daten und mit dem Patientenwillen umgeht, sondern wie man auch mit Patenten, IP-Rechten sowie unerwünschten Vorkommnissen in den Produkten umgeht.